Wenn plötzlich der Wert „Erfolg“ im betrieblichen Kontext abstürzt und der persönliche Wert „Familie“ an Wichtigkeit gewinnt, dann steht die Welt einmal kurz still – um sich dann in eine völlig andere Richtung zu drehen. Wer da nicht die Orientierung verliert …
Alexander, CEO, eines etablierten europäischen Konzerns gehört zu der absolut erfolgsverwöhnten Spezies und kann auf eine steile Karriere zurückblicken. Den daraus resultierenden finanziellen Handlungsspielraum genießt er, er hat sich einen sorglosen Lebensstil samt persönlichen Freiheiten zu eigen gemacht. Er sei coachingresistent, so etwas brauche er sicher nicht, meinte er bis dato stets selbstbewusst und sympathisch lächelnd, wenn wir uns auf diversen Veranstaltungen begegneten.
Heute besuchte er mich zum ersten Mal in der Praxis, es handelte sich seines Erachtens um einen Notfall. Eigenartig, nebenbei bemerkt, wie sehr sich solche Notfalltermine in letzter Zeit häufen. So typisch Führungskraft kam er gleich zum Punkt. Also: Betrieblich sei alles mehr oder weniger in Ordnung – mit Ausnahme des Personalthemas im Sinne von rascher Fluktuation durch Abwerben, insbesondere bei Frauen seiner Führungsriege, was er als eine Geschichte einstufte, die er vielleicht gerne ein anderes Mal mit mir besprechen würde. Nun jedoch wollte er sich mit mir über etwas Privates austauschen, es gehe um seine Familie.
Wie aus heiterem Himmel hatte ihm seine Frau Marlies vor einigen Tagen eröffnet, dass der Hausarzt ihr die Diagnose Erschöpfungsdepression als Resultat ihrer vielfältigen Symptomatik genannt hatte und sie unbedingt etwas in ihrem Leben ändern müsse. Als erste Maßnahme brauche sie eine Auszeit vom Job und alles Belastendem in ihrem Leben, hatte der Arzt gemeint. Alexander müsse sich nun selber um seine Eltern kümmern, die quasi rund um die Uhr Betreuung wünschen, obwohl sie eigentlich gut versorgt mit Pflegern, Reinigungspersonal und Gärtner sind. Marlies teilte ihm außerdem mit, dass Alexander nun auch diverse Agenden was die drei Kinder betrifft, übernehmen müsse, im Besonderen Schule, Sport und Freizeit. Drittens sei sich Marlies nicht mehr sicher, ob sie überhaupt noch Liebe für Alexander empfinde. Sie denke ernsthaft über eine Scheidung nach.
Alexander, der sich all den 25 Jahren die er mit Marlies glücklich verheiratet war, vollkommen auf seine persönliche und betriebliche Weiterentwicklung konzentrieren konnte, und sich in allen Belangen absolut auf Marlies verlassen konnte, wurde ganz plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen. Plötzlich muss er mit Sohn Julian ausführliche Gespräche führen, der vollkommen verunsichert ist bezüglich seiner Studienwahl. Er darf seine Frau zum Neurologen bringen und anschließend an der ersten Paarberatungssitzung seines Lebens mitmachen. Seine Eltern rufen ihn täglich mehrfach an, da Marlies den Kontakt vorerst an ihn delegierte. Hinzu kommt noch, dass Victoria, die jüngere Tochter verschlossen wie ein Grab ist, an den Abenden nicht heimkommt und sich wer weiß wo herumtreibt. Die gesamte Organisation von Haus, Haushaltsführung, Familie und Personal ist nun auf Thomas übergesprungen. „Frau Dr. Stieger-Lietz, was soll ich nun tun?“, fragt er mich.
Im deutschen Werteranking rutschte der Wert „Erfolg“ erheblich nach unten und liegt nur mehr auf Platz 7 der wichtigsten zehn Werte, während die Familie auf Platz 3 kam (Platz 1 Gesundheit, Platz 2 Freiheit). Familie, ein Wert der Alexander auch in der Firma wichtig ist, bedeutet für ihn Freiheit und Sicherheit gleichermaßen. Familie steht bei ihm für Geborgenheit, Vertrauen, Schutz, Gesundheit und Gelassenheit. Bemerkenswert bei alexander ist die Tatsache, dass er seiner Firma den gleichen Wertekanon zuweist wie seiner Familie. Tatsächlich lebt er in seinem Betrieb vor allem mit seinen obersten Führungskräften den Wert Familie mehr oder weniger bewusst vor und transportiert dies in den Betrieb.
Mit seiner obersten Führungsriege baut er auf sehr persönliche Verhältnisse – er weiß Bescheid über die persönlichen Befindlichkeiten aller seiner zwölf direkten Führungskräfte, er unternimmt mit ihnen gemeinsame Aktivitäten, sportlich wie kulinarisch. Das Verhältnis zu seiner Führungscrew ist absolut auf Vertrauen und Wertschätzung aufgebaut – sehr großzügig geht er mit deren unterschiedlichsten Befindlichkeiten, sei es Geld oder Zeit um. Von ihm selber können wir das Gegenteil behaupten – bis dato glaubte er ja eine gesunde Ehefrau auf seiner Seite, die Ihm Sicherheit und Freiheit in größtem Maße ermöglichte.
Was bedeutet „Familie“ nun als betrieblicher Wert – können Mitarbeiterinnen damit motiviert werden, sich in der Firma wohlzufühlen, sogar glücklich zu sein? Erleben sie im Kreise ihrer KollegInnen familiäre Werte wie Fürsorglichkeit, Gemütlichkeit, Harmonie, Motivation, Nächstenliebe (Liebe), Sicherheit, Solidarität, Tradition, Treue, Zuneigung?
Der Trend, dass direkt geführte Teams immer kleiner werden, würde in diese Überlegung perfekt dazu passen. Jedes Teammitglied persönlich zu kennen, lässt sie unter anderem leichter motivieren, fördern und verhindert somit auch das scheinbar plötzliche Ausscheiden aus einem Unternehmen.
Ja, natürlich! Der Begriff Familie bezeichnet im Wesentlichen eine soziale Gemeinschaft, in der alle Mitglieder eine biologische oder rechtliche Verwandtschaft zueinander haben. Die familiären Beziehungen können durch biologische Abstammung, Heirat, eingetragene Lebenspartnerschaft oder Adoption begründet sein. Die Art und Weise, wie Familie gelebt wird, variiert je nach Kultur. Bei Naturvölkern zum Beispiel sind Familien oft große soziokulturelle Einheiten, die eng zusammenhalten und in der Regel auch regional zusammenleben. Anders in wirtschaftlich entwickelten Industriestaaten und deren Leistungsgesellschaften, wo Familie auch in Betrieben entstehen kann, die von typischen Familienwerten geprägt sind.
Alexander hatte im Prinzip zwei Familien in seinem Leben parallel etabliert und der einen offensichtlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt als der anderen. Doch als die vernachlässigte Familie Risse bekam und auseinanderfallen zu drohte, wurde ihm klar, dass er nun seine Prioritäten neu zu definieren hatte – zumindest vorübergehend. Seiner Betriebsfamilie, die aus seinem engsten Mitarbeiterkreis bestand, schilderte er seine fatale Situation. Es geschah, was auch in funktionierenden, klassischen Familiensystemen passiert: empathisches Zuhören, vorbehaltlose Unterstützung und ein enges Zusammenrücken. Alexander wurde von vielen Aufgaben befreit und man wird vollkommen zu ihm stehen, wurde ihm von seinem Team geschlossen versichert. Tief gerührt stieg er in sein Auto ein, gestärkt von einer inneren Stimme, die ihm sagte, wenn er nur halb so viel Energie in seine Beziehungen zu Hause investieren würde, wie in seinen Betrieb, dann wird alles bald wieder gut sein.
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