Introversion und Extraversion gelten als Persönlichkeitsmerkmale, die fest in uns verankert sind. Unser Wirtschaftsleben scheint die eine Gruppe zu bevorzugen, die andere gerät ins Hintertreffen. Inwieweit steht Introvertierten die Karriereleiter offen?
Einen Führungstyp, den ich als spannend und angenehm erlebe, ist jener mit der Ausstrahlung von Ruhe, Kraft und Konzentration. Er ist meist in den obersten Etagen von Unternehmen zu finden, bekleidet eine Vorstandsfunktion und ist heutzutage weniger im operativen zu Hause, was meines Erachtens seinen Grund hat, wie später noch erläutert wird. Diese Führungspersönlichkeit kann sehr viel im Unternehmen bewegen und wird mit ihrer Meinung im gesamten Unternehmen ernst genommen. Wenn diese Menschen aus ihrer ruhigen Zone heraustreten, dann haben ihre Aussagen auch Gewicht, mit wohlgewählten Worten wissen sie zu faszinieren. Sie besitzen eine Ausstrahlung von höchster Professionalität und Kompetenz. Das direkte Führen von großen Teams bevorzugen sie nicht unbedingt. Doch sie schaffen es, wie ein Fels in der Brandung sehr viel Ruhe und Stabilität zu vermitteln, was die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu schätzen wissen. In ihrer Umgebung herrscht eine angenehme Gelassenheit und eine vertrauensvolle Stimmung, in der man sich Zeit zum Zuhören nimmt. Sie mögen das Understatement. Öffentliche Auftritte sind ihnen nicht wichtig. In den Seitenblicken sind sie nicht zu finden. Wenn eine Kunstausstellung eröffnet wird, dann kommen sie entweder den Tag davor oder danach. Die erotische Führungskompetenz beschrieben in einem früheren Blog besitzt dieser Führungstypus in einer völlig anderen Qualität. Wer es als eine solch introvertierte Persönlichkeit bis nach oben geschafft hat, darf dort mit seinen Wesenszügen punkten und seine Rolle mit Kompetenz und Weitsicht erfüllen.
Doch wie sieht es aktuell mit den begabten, jungen Nachwuchsführungskräften aus? Inwiefern sind die Introvertierten unter ihnen für den Aufstieg in die höchsten Konzernebenen geeignet und erwünscht?
Das Problem für die jungen Introvertierten entsteht dadurch, dass sie von den Extravertierten rhetorisch schlichtweg ausgebremst werden. Ihr Expertenwissen reicht, selbst in Kombination mit einer ausgeprägten Fähigkeit für klar strukturierte Kommunikation, nicht aus, um in Meetings ihren Standpunkt möglichst rasch zu begründen und sich durchzusetzen. Sie reißen nicht einfach das Wort an sich, sondern erwarten sich, es in aller Fairness zugeteilt zu bekommen. Auch die Spontanität der Extros liegt den bedächtigeren Intros gar nicht. Wie kann man nur nach einem vierminütigen Geplauder am Gang dermaßen weitreichende Entscheidungen treffen?
Bei der Besetzung der nächsten Führungsposition ziehen Persönlichkeiten mit introvertiertem Charisma in vielen Themenbereichen, wie Marketing und Vertrieb mit großer Wahrscheinlichkeit allerdings den Kürzeren. Diese Entwicklung wird von den stilleren Menschen unter uns schmerzlich wahrgenommen. Sie verlieren in Folge oftmals ihre Selbstsicherheit, sie fühlen sich nicht als engagierte Arbeitskraft wertgeschätzt und es können auch Ängste vor einem Jobverlust entstehen.
Dazu kommen noch folgende Faktoren: Die introvertierten Führungspersönlichkeiten neigen dazu, die Schwierigkeiten des Lebens mit sich selber auszumachen. Wenn sie in eine heikle, persönliche Situation geraten, ist ihnen das von außen nicht anzumerken. Es sind Menschen, die unglaublich stabil wirken auf andere. Selbst vor dem Partner oder der Partnerin verbergen sie ihre inneren Turbulenzen. Länger als andere Führungspersönlichkeiten versuchen sie, sich die Lösungen selber zusammenzubauen. Themen des Berufs werden ganz bewusst nicht in die Familie getragen, sie wollen niemand damit belasten. Erschwerend mag hinzukommen, dass sie die Kompetenz für die Problemlösung nur bei sich selbst sehen.
Wenn sich die verletzten Introvertierten am Ende dann doch für ein professionelles Coaching entscheiden, dann geht es in erster Linie darum, wieder ein Selbstbewusstsein für die eigenen Qualitäten zu entwickeln. Dort wird zunächst herausgearbeitet, welche besonderen Qualitäten jene Menschen besitzen, die sich mit Überlegtheit und Ruhe auf die Lösungssuche begeben. Was bewirken Menschen in ihrer Umgebung, die eine Gelassenheit ausstrahlen? Wofür sind Intros generell gerade heute gut? Diese Analyse führt meist zu der Erkenntnis, dass zum Beispiel ein introvertierter Verkäufer, der Fragen stellt und den Kunden reden lässt, genauso erfolgreich ist, wie der hochaktive Performer. Gleiches gilt für die Anwältin einer Wirtschaftssozietät oder den Senior-Projektleiter einer internationalen Consultinggesellschaft. Denn das Visionäre erfordert das Nachdenken und das Eintauchen. Bei aller Geschwindigkeit braucht es trotzdem das Innehalten und die Frage, ob die Richtung stimmt und die Frage, wie geht es den anderen. Auch die Bestärkung, dass für den Aktiven das Pendant der Gelassenheit notwendig ist, führt bei dem Coachee zu neuer Selbstbestätigung.
Beleuchtet wird natürlich auch die Frage, wo kann ich mich in meinem Unternehmen positionieren, damit ich mit meinen Qualitäten und meiner Fachkompetenz punkten kann; wo kann ich erfolgreich sein, auch finanziell gesehen. Und man darf sich schon überlegen, ob man am richtigen Pfad ist, eine Führungsposition anzustreben, die mit viel Öffentlichkeit und Reisetätigkeit verbunden ist, oder eine andere Richtung rascher zum Ziel führt. Eine Klientin aus meiner Coachingpraxis wird in ihrem Unternehmen dafür gewürdigt, dass bei wichtigen Einstellungsgesprächen mit hoher Sicherheit eine Zusage des Bewerbers oder der Bewerberin dann erfolgt, wenn sie bei der finalen Zusammenkunft dabei ist. Offensichtlich kann sie sich mit ihrem großen Wortschatz sehr gewinnend ausdrücken, Sicherheit vermitteln und als introvertierte, ruhige Person das notwendige Vertrauen erzeugen. Auch bei Konfliktgesprächen wird sie hinzugezogen, weil sie es mit ihrer Ruhe versteht, Aussagen abzufedern, neu einzukleiden und Lösungen zwischen Parteien herzustellen.
Zusammenfassend habe ich nach fast drei Jahrzehnten Erfahrung im Wirtschaftscoaching doch den Eindruck, dass die Zeiten für die mir persönlich sehr nahestehenden Intros härter geworden sind im Vergleich zu extravertierten Führungspersönlichkeiten. Die Gabe von Entschleunigung, um zu reflektieren und bedächtig Lösungen zu entwickeln, was diese Gruppe so wunderbar kann, ist heute scheinbar weniger gefragt als früher und es gibt genügend junge Leute, die sich mit ihrem Wesen einfach nicht richtig fühlen in unserer Welt. Zu dieser letzten Aussage wird in Kürze hier ein neuer Blogbeitrag veröffentlicht werden.
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