Bemerkenswerte Krisenstabilität attestiert Adelheid Stieger-Lietz den Führungspersönlichkeiten und geht der Frage nach, inwieweit gelebte erotische Kompetenz dafür verantwortlich sein könnte.
Das Leben im Außen ist nicht nur dynamischer geworden, sondern auch bedeutend unsicherer und beträchtlich instabiler. Dieses Gefühl scheint uns alle erfasst zu haben, den Umfragen zufolge besonders die junge Generation.
In meiner Praxis hingegen überraschen mich meine Klientinnen und Klienten immer wieder mit einer erstaunlichen Krisenstabilität. In unseren Gesprächen wird mir bewusst, in welch großem Ausmaß sie mit Veränderungsprozessen laufend konfrontiert werden, denn sie haben sich nicht nur mit ihrem eigenen Handeln zu beschäftigen, sondern sind zusätzlich Ansprechperson für ihr Team, für Familie und Freunde, wo von ihnen erwartet wird, Richtung, Halt und Orientierung zu vermitteln. Trotz dieses permanenten Hereinströmens von Problemen, Nöten und Hilferufen präsentiert sich der überwiegende Teil meiner aktuellen Coachees mit einer krisenfesten Haltung, die in mir Anerkennung auslöst.
Führung, Erfolg und Erotik
An dieser Stelle will ich nun der Frage auf den Grund gehen, warum ich täglich auf Führungspersönlichkeiten treffe, die mit einer besonderen Ausstrahlung und Energie den Praxisraum füllen. Was steckt da wohl dahinter? Wie lässt sich dieses Phänomen benennen? Wir könnten nun die Resilienz, die genetische wie auch die erlernte, auf die Bühne holen – aber nein. Ich möchte einen neuen Aspekt einbringen, der meines Erachtens nicht genügend ins Licht gerückt wird: Die erotische Kompetenz. Die Ausstrahlung und die Energie, die ich in Coachingeinheiten wahrnehme, entspringen aus dem erotischen Potential, das meine Gegenüber in sich tragen! Damit Gedanken nicht in die falsche Richtung galoppieren, sei hier sofort festgehalten, dass ich von Männern und Frauen gleichermaßen spreche und vorderhand nicht das Sexuelle gemeint ist.
Wie manche vielleicht wissen, habe ich nach meinem Ursprungsberuf in der Pädagogik einen nächsten Ausbildungsschritt gewagt, nämlich jenen zur Sexualberatung. Ein Wagnis insofern, als in den späten Achtzigerjahren im ländlichen Oberösterreich mein berufliches Standbein mit höchstem Befremden aufgenommen wurde. Ich hingegen brannte für dieses Thema und auch meine Forschungsarbeit viele Jahre später befasste sich mit der Thematik des erotischen Kapitals als salutogenetischen Ansatz geschlechtersensibler Gesundheitsförderung.
Der sinnliche Lebenstrieb
Die erotische Kompetenz hat vordergründig wenig mit Sexualität und Körperlichkeit zu tun, sondern definiert sich hier als Lebenstrieb, welcher in uns existiert, und steht im Gegensatz zum Todestrieb. Dieser Lebenstrieb führt dazu, dass Menschen ihr Leben mit motivierter Zielorientierung steuern.
Menschen mit einer hohen erotischen Kompetenz besitzen aber auch die Fähigkeit zur Hingabe in vielen Bereichen, sie lieben oft die Kunst, die Musik, kulinarische Kompositionen oder geben sich klassischen Wellnessfreuden hin. Sie gelangen gerne und regelmäßig in freudvolle Hochstimmungen oder tauchen in sanfte, ekstatische Momente ein. Ihre positiven Stimmungen und Momente speichern sie sorgsam in ihren Energietanks ab und sind somit in der Lage, ihren beruflichen und privaten Herausforderungen mit einer positiven Grundstimmung zu begegnen. Persönlich finde ich es überaus spannend, dass in diesem Wandel der Zeit, wo Krisen im Außen so stark sind, viele Führungspersönlichkeiten trotzdem lustvoll leben und genießen wollen, obwohl sie keine Zeit für Yoga-Workshops und dergleichen haben.
Wenn Sinnlichkeit aktiv im Leben seinen Platz bekommt, dann werden auch andere Lebensbereiche beeinflusst, zum Beispiel führt die bewusste Körperwahrnehmung automatisch zu mehr Bewegung, gepflegterem Erscheinungsbild und positiver Körper-Geist-Seele-Effekte.
Es geht noch weiter, denn Studien belegen, dass Menschen mit eine hohen erotischen Kompetenz erfolgreicher im Beruf mit entsprechender Einkommenssituation sind. Und wer einmal seine individuelle Erfolgsspirale erklommen hat, besitzt eine charismatischere Ausstrahlung, ist gewinnender, lebensfroher, kreativer, zielorientierter und ausgestattet mit Visionskräften.
Sexualität als Säule im Lebensmodell
Kommen wir nun zum sexuellen Part des erotischen Potentials. Aktuelle Umfragen zeigen, dass die Menschen lustloser als noch vor einigen Jahren ihr Tages- und Nachtleben gestalten. Im Grunde genommen völlig logisch, denn im archaischen Menschsein bedeutet jeder Krisenmodus ein Zurückgreifen auf einen der folgenden drei Modi: kämpfen, flüchten oder totstellen. Für Sexualität im Sinne der Fortpflanzung bleibt kein Platz, es meldet sich auch keine Lust, die entflammt werden will. Doch wie verhalten sich Führungspersönlichkeiten der Neuzeit? Hier vernehme ich, dass Sexualität sehr wohl eine wichtige Säule in deren Leben darstellt, bei 50 plus ebenso wie bei 40 plus, bei Männern ebenso wie bei Frauen. Sie berichten, dass Erotik und körperliche Nähe ihnen eine Flut an positiven Kräften hereinspült, wie Stärke, Vitalität, Kreativität, Regeneration, Entspannung, Wohlbehagen, Optimismus.
Lust auf mehr erotische Kompetenz?
Falls Ihr Interesse geweckt wurde und Sie sich schon gefragt haben, wieviel erotische Kompetenz Sie bei sich selbst verspüren, dann möchte ich Ihnen am Ende dieses Blogs einige Anregungen in Form von Fragen mitgeben, auf die Sie Ihre persönlichen Antworten finden werden.
- Wann habe ich das letzte Mal echte Lebensfreude, Lebenslust und Erotik in mir verspürt?
- Was habe ich in letzter Zeit als motivierend, energievoll und genussvoll erlebt?
- Besitze ich die Fähigkeit in etwas lustvoll einzutauchen, Euphorie zu entwickeln, Sinnlichkeit zu spüren?
- Gibt es für mich Menschen, vielleicht Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, denen ich ein hohes Maß an erotischem Potential attestieren würde und die eine Vorbildfunktion für mich besitzen?
Falls Sie anhand Ihrer Antworten erkennen, dass Ihre erotische Kompetenz im Laufe der Zeit langsam weggeschlummert ist: Wo, wie und mit wem möchte ich in meine Lebenslust neu aktivieren?
Mein persönliches Fazit aus verschiedensten Beobachtungen lautet: Wenn wir unser erotisches Potential verlieren, dann verlieren wir auch die nötige Dosis an Lebenstrieb, Schaffensdrang, Kreativität und Gestaltungskraft. Einfach einen zu großen Anteil des irdischen Menschseins.